Über Identitäten: Erinnerungen an meinen Freund Prof. Friedrich (Fritz) Gottas

Geschichte
11. November 2022

Die Geschichte eines ungarisch sprechenden Deutschen aus der Slowakei.

Die einstige Österreichisch-Ungarische Monarchie hat uns beide zu einer engen Freundschaft zusammengeführt: Er Karpatendeutscher, der sehr gut Ungarisch sprach und in der Zips (Spiš) auf dem Gebiet der heutigen Slowakei geboren ist, wo sein Vater als evangelischer Pfarrer wirkte und in allen drei Sprachen der Region predigte. Die Mutter, eine geborene Kowarik, stammte aus einer Pressburger Weingärtnerfamilie. Man sprach Deutsch, aber auch Slowakisch und Ungarisch. Sie nannte ihren Sohn immer wieder Friedrich, was er sehr liebte, alle anderen nannten ihn Fritz.

Ich wiederum bin Pressburger Mischling mit deutschen und ungarischen Wurzeln aus der Monarchie. Ich interessierte mich als Biologe an der Universität Salzburg nebenbei immer schon für Geschichte, er war Professor für Geschichte der Neuzeit (mit besonderer Betonung von Ostmittel- und Südosteuropa) an meiner Alma Mater.

Mit meinem Freund Friedrich Gottas um das Jahr 2017 bei einem Ausflug in Bayern. Er liebte es Friedrich genannt zu werden, doch ich kannte ihne eher als Fritz.(Foto: Maria Hofrichter)

 

Er tanzte schon viel länger als ich griechische, israelische und andere Kreistänze, ich schloss mich der Tanzgruppe erst mit 56 an, dann aber intensiv. Er grüßte mich bei diesen Treffen „szervusz öcsikém“ (ungarisch für „Servus, mein kleiner Bruder“; Fritz war immerhin 17 Jahre älter als ich), ich ihn „szervusz bátyám“ (was für „Servus, mein älterer Bruder“ steht). Ja, die ungarische Sprache ist sehr reich und kann zwischen feinen Nuancen unterscheiden. Und wir küssten uns zum Erstaunen der anwesenden Österreicher auf die Wange, wie es unter Ungarn normal und üblich war und immer noch ist.

Wie könnte es anders sein, die Geschichte Ungarns und speziell die von Oberungarn, der heutigen Slowakei, wurde ein bevorzugtes Spezialgebiet von Fritz in seiner Historiker-Karriere. Er studierte dieses mitteleuropäische Gebiet und publizierte darüber jahrzehntelang. Leider ist Fritz, mein „bátyám“, mein „älterer Bruder“, 2020 im 81ten Lebensjahr von uns gegangen (mehr über Friedrich Gottas kann man auch in einem Wikipedia-Beitrag erfahren). Seinen 78ten Geburtstag feierten wir zusammen mit unseren Frauen am 1. April 2018 noch gemeinsam in Bratislava. Wir haben uns blendend verstanden und wurden Freunde. Er geht mir – wie auch seiner Frau, seinen beiden Kindern und drei Enkelkindern – sehr ab.

Friedrich Gottas mit seinem Sohn, 1969. (Foto: Familienarchiv Gottas)

 

Die Heimat von Fritz, die Zips

Das Gebiet der heutigen Slowakei, bis 1918 Oberungarn, wird in der Wahrnehmung vieler Menschen nicht selten auf die Metropole an der Donau, Pozsony/Pressburg reduziert. Doch das Land hatte wirtschaftlich und kulturell sehr viel mehr zu bieten, und unter diesen Schätzen ist die historische Landschaft und das einstige Komitat Zips (slowakisch Spiš, ungarisch Szepes) besonders hervorzuheben – das war auch die Heimat der Familie Gottas. Die Zipser Gespanschaft existierte übrigens damals bereits seit mehr als 600 Jahren. Ihre ruhmreichsten Städte waren bzw. sind immer noch Levoča (Leutschau), Poprad (Deutschendorf), Spišská Nová Ves (Zipser Neudorf) und Kežmarok (Kesmark).

Die Wurzeln dieser Städte waren deutsch. Zwar war das Gebiet vor 800 Jahren zweifellos überwiegend slawisch bevölkert, auch wenn es schon lange vorher von den Magyaren besetzt wurde, doch waren viele Menschen beim Mongoleneinfall 1242 vertrieben oder umgebracht worden. Dann kamen – zum Großteil auf Einladung der ungarischen Könige – die sogenannten „Zipser Sachsen“, keineswegs alle aus Sächsischen Landen, sondern weil man sie in den damaligen lateinisch geführten Akten alle als „Saxones“ geführt wurden und sorgten für wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung.

Als Karpatendeutsche wurden sie damals noch nicht bezeichnet, denn dieser Begriff entstand erst Anfang des 20. Jahrhunderts. Damit gemeint sind jene deutschsprachigen Menschen, die jahrhundertelang im Gebirgszug der Karpaten siedelten. In drei Hauptsiedlungsgebieten prägten die Deutschen seit dem Mittelalter die weitere Entwicklung, in Pressburg und Umgebung, im Hauerland und in der Zips. Der Vater hatte an mehreren deutschen Universitäten Theologie studiert und erhielt dann in der Zips eine Pfarrstelle.  Hier wurde 1940 sein drittes Kind, Fritz, geboren. Doch lassen wir diesen selbst zu Wort kommen (wir zitieren dabei aus unserem Buch „Von Pressburg nach Salzburg“).

Friedrich Gottas, Ende 1990-er. (Foto: Familienarchiv Gottas)

 

Identität: Autobiographisches von Prof. Friedrich Gottas selbst erzählt

„Ich bin 1940 in Krompach geboren, wo ich die ersten drei Lebensjahre verbrachte. Mein Vater stammte aus Kremnitz, meine Mutter aus Pressburg, wo die Familie dann zwischen 1943 und 1945 lebte und von wo wir knapp vor Ankunft der Russen bzw. kurz vor Kriegsende nach Niederösterreich geflohen sind. Meine Muttersprache ist Deutsch. Meine Eltern sprachen auch Ungarisch und Slowakisch. Mein Vater war evangelischer Pfarrer und predigte in allen drei Sprachen. Meine zwei um sechs bzw. vier Jahre älteren Schwestern haben – zumindest teilweise – slowakische Volksschulen besucht und daher einige Slowakisch-Kenntnisse. Ich habe als Student Ungarisch gelernt, zunächst von meinem Vater, dann auch bei Studienaufenthalten in Ungarn.“

 

Was ist deutsch, was ist österreichisch?

Die scheinbar einfache Frage, was deutsch und was österreichisch ist, ist bei einer historisch exakteren Betrachtung gar nicht so leicht zu beantworten. Genau diese Frage haben wir Fritz im Jahr 2015 gestellt, als wir mit meinem Neffen Peter Janovicek (der auch diese deutschsprachige Webseite redigiert) an unserem Buch „Von Pressburg nach Salzburg“ arbeiteten. Da es dabei um verschiedene Nationalismen in Mitteleuropa ging, um die vielen Sprachen, Kulturen, Ethnien, Identitäten und Befindlichkeiten der einzelnen „Völker“ (Vorsicht, ein irreführender, schwer definierbarer und manchmal auch gefährlicher Begriff) des einstigen Königreichs Ungarn, war Fritz genau der passende Interviewpartner: Er konnte wissenschaftlich korrekt, sachlich und fast schon emotionslos darüber sprechen. Wie es sich für einen Universitätsprofessor und Wissenschaftler gehört. Ob er selbst eher deutsch oder mehr österreichisch war, wollte er gar nicht genau festgelegt wissen, was unterstreicht, wie schwierig diese Frage wohl sein muss. Wortwörtlich sagte er uns damals: „Die Frage: ‚Was ist deutsch, was ist österreichisch?‘, ist sicher nicht anachronistisch, aber auch ich kann sie nicht wirklich beantworten.“

Rein den Lehrbüchern nach war Fritz ein Zipser Deutscher oder Karpatendeutscher. Doch verbrachte er ab einem Alter von fünf Jahren sein Leben vor allem in Wien, besuchte hier alle Schulen und dann die Universität, wurde also „Wienerisch“ sozialisiert – und fühlte sich als Wiener als er dann 25-jährig nach Salzburg kam und hier bis zu seinem Tod 2020 lebte und wirkte. Er war also sicher vor allem auch Österreicher. Ein Mensch mit „Mehrfachidentität“ (Siehe unten!), wie heute sehr viele!

Die Zipser redeten ein „reineres“ Deutsch als wir Pressburger. Zwar war es ein Kauderwelsch aus drei Sprachen, das aber klar auf deutschen Wurzeln beruhte. In der Donaumetropole hieß es bei den alten Männern bei der Begrüßung früher „abediere“ (Habe die Ehre), Besteck nannte man eszaig („Hozd az eszzajgot“, bring das „Esszeug“), die Kinder gingen na hazjel (Häuserl, auf das Häuschen = Töpferl gehen), einen flott gekleideten, selbstbewussten jungen Mann nannte man frajer (Freier), auch wenn er mit harmlosen Absichten auf der Straße spazierte, und die Wurst mit der Butter waren v špajzi (in der Speis). Es gab cylinder, mašina, firhang, kredenc, verkcajg und vieles mehr.

Doch vom Kauderwelsch zurück zur Frage der Identität: In den deutschsprachigen Ländern kursiert ein beliebtes Bonmot über die Österreicher, die fälschlich behaupten würden, „Hitler sei ein Deutscher und Beethoven ein Österreicher gewesen“. Auch mit Fritz lachten wir oft über diesen Scherz, den wir als typische Österreicher sehr gut verstanden. Jeder halbwegs gebildete Mensch erkennt, wo der Haken an dieser scherzhaften Aussage liegt. Man schreibt bestimmten Personen bestimmte Identitäten zu, und dann macht man es auch noch verkehrt.

Man könnte Beethoven, obwohl er in Bonn geboren wurde, tatsächlich als Österreicher bezeichnen, wobei die Betonung auf dem Konjunktiv liegt. Die Gedankenkette wäre dann wie folgt: Wien, seinerzeit eine der größten Städte Europas und sogar der Welt (um genau zu sein, um 1900 war es die fünftgrößte Stadt der Welt), war und ist die Hauptstadt Österreichs. Und in Wien hat der geniale Komponist lange Zeit gelebt und seine berühmtesten Werke geschaffen. Beethoven war also ein Wiener. Doch ein Österreicher war er dennoch nicht. Denn Österreicher mit einer Identität wie heute hat es zu seiner Zeit noch keine gegeben. Ebenso konnte Mozart kein Österreicher sein (Salzburg war damals noch nicht einmal Teil des Habsburgerreichs). Und dieses wesentliche Faktum hat Fritz als Historiker oft hervorgehoben. Man kann nicht Dinge in die Geschichte „hineinprojizieren“, die früher noch gar nicht existiert haben.

Dokument aus der Zips, 1990-er. (Foto: Familienarchiv Gottas)

 

Waren die alten Pressburger Deutsche?

Zu dieser Frage haben wir uns bereits in einem Beitrag auf dieser Webseite geäußert. Aber, wir geben zu, historisch erschöpfend war unsere Antwort nicht, dass nämlich die Mehrheit der Pressburger Bevölkerung „deutsch“ gewesen war. Geschichtsprofessor Fritz Gottas beantwortete uns diese Frage wie folgt: „Was die ‚deutschen‘ Pressburger betrifft, so sind diese (meiner Meinung nach) vor 1918 weder als Deutsche noch als Österreicher zu bezeichnen. Sie waren Bürger des transleithanischen Teiles der Habsburgermonarchie mit deutscher Muttersprache. Viele von ihnen waren jedoch mehrsprachig.“

 

Wann entstand überhaupt die „deutsche Identität“
Was ich an Fritz unter vielen anderen Dingen sehr schätzte, war seine wissenschaftliche Korrektheit und Sachlichkeit, wenn es um Themen wie „Nation“, „Volk“ und „Identität“ ging. Obwohl er halb Zipser, halb Pressburger Deutscher war ließ er sich nie zu Aussagen hinreißen, die man irgendwie mit „Nationalismus“ in Zusammenhang hätte bringen können. Auf die Frage, wann eine „deutsche Identität“ entstanden ist, sagte er: „Darauf habe ich keine eindeutige Antwort. Es gibt schon Probleme mit dem Begriff ‚Identität‘. Es wäre nämlich zu fragen, inwieweit ein ausgeprägtes Standes- oder auch Landesbewusstsein bereits als Vorstufe von nationaler, also im konkreten Fall deutscher (oder auch österreichischer) Identität gelten kann. Der Begriff ‚Identität‘ ist sehr komplex und betrifft viele Aspekte. Nicht umsonst sprechen wir heute von territorialen, nationalen, sprachlichen, konfessionellen, mentalen und anderen Identitäten und in der Folge auch von ‚Mehrfachidentitäten‘, die eine einzelne Person hat. Von einer ‚deutschen Identität‘ kann man – so denke ich – erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert sprechen. Es bleibt die Frage offen, ob auch die damals auf dem Gebiet der heutigen Slowakei lebenden deutschsprachigen Bürger der Habsburgermonarchie schon damals eine solche entwickelten.“

Und so war es auf dem Gebiet der heutigen Slowakei mit den anderen „nationalen Identitäten“ auch. Oder gar den Nationalismen: Ihre große (und unrühmliche) Stunde hat erst im 19. Jahrhundert geschlagen. Fritz, betonte auch immer wieder, dass „die Entwicklung einer ‚österreichischen Identität‘ erst in das 20. Jahrhundert fällt“. Ich weiß aus vielen Gesprächen mit unzähligen Menschen, dass diese Erkenntnis manche überrascht. Sie haben immer geglaubt, das Habsburgerreich sei irgendwie mit einer „österreichischen nationalen Identität“ gleichzusetzen. Da das Thema von allgemeinem Interesse sein dürfte, werden wir an dieser Stelle demnächst das gesamte Interview mit Prof. Friedrich Gottas veröffentlichen. Es trägt die vielversprechende Überschrift: „Waren die Pressburger Deutsche oder Österreicher? Oder waren sie weder Deutsche noch Österreicher?“ Ich denke letzteres trifft zu. Sie waren eine bunte Mischung, eben Pressburger!

Mit Friedrich Gottas im Süden von Kreta im Jahr 2019. Links im Bild seine Frau Heidi (die auch Wurzeln in Pressburg hatte), rechts im Bild die Frau des Autors, Maria Hofrichter. (Foto: Familienarchiv Hofrichter)

 

Robert Hofrichter

Redaktion: Peter Janoviček

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